Empirische Studie zur Verständlichkeit von Versicherungsklauseln
I. Gegenstand der Untersuchung
Gegenstand der Untersuchung ist die Verständlichkeit eines von einem großen deutschen Versicherungsunternehmen verwendeten Versicherungstextes, der Allgemeinen Versicherungsbedingungen oder AVB für einen privaten Altersvorsorgevertrag („Riester-Rente”). Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) sind für eine rechtslinguistische Studie zur Verständlichkeit von Rechtstexten insofern von besonderem Interesse, als sie dem von der Rechtsprechung entwickelten Transparenzgebot unterliegen, das seit dem 1. Januar 2002 auch in das Bürgerliche Gesetzbuch Aufnahme gefunden hat:
§ 307 Abs. 1 BGB: Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine unangemessene Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist.
Bei der Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes ist von den Bedingungen der Textproduktion und –rezeption und den unterschiedlichen institutionellen Funktionen des Textes auszugehen. Diese unterscheiden sich erheblich von Texten der Alltagswelt, mit denen sich die Textverstehensforschung bisher fast ausschließlich befasst hat.
Allgemeine Versicherungsbedingungen sind vorgefertigte Vertragsbedingungen, durch die der Versicherungsvertrag ausgestaltet wird und die einer Vielzahl von Verträgen zugrunde gelegt werden. Da sie dem Versicherungskunden einseitig gestellt werden, befindet sich dieser automatisch in einer unterlegenen Position. Es ist konstitutiv für das Versicherungsgeschäft, dass in großer Zahl Verträge mit gleichförmigen Konditionen geschlossen werden. AVB haben eine doppelte Rolle: Sie beschreiben das – unsichtbare – Produkt Versicherung und bringen es zugleich mit hervor. Für den Versicherer besteht somit die primäre Funktion des Vertrags in der Beschreibung und Begrenzung des versicherten Risikos. Die AVB der einzelnen Versicherer sind an Musterbedingungen orientiert, die die Versicherungsverbände entwickelt haben. Die Vorgaben lassen sich als Umsetzungen des Versicherungsvertragsgesetzes begreifen und weisen in einzelnen Formulierungen Übereinstimmungen mit dem Wortlaut des Gesetzes auf. Die Nähe zum Gesetzestext schlägt sich auch in AVB-Texteigenschaften nieder: Der Text ist nach Paragraphen gegliedert und enthält rechtlicheTermini.
Dem Verstehen von AVB kommt in mindestens drei institutionellen Handlungsbereichen unterschiedliche Funktion zu:
a) Rechtliche Kontrolle von AVB
AVB müssen sich an einen gesetzlich vorgegebenen Rahmen halten (BGB, AGBG [Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen], VVG [Versicherungsvertragsgesetz]). Wird gegen diesen Rahmen verstoßen, können Individuen und Verbände Klage erheben. Den Gerichten obliegt dann eine Inhaltskontrolle der AVB, die vor allem auf eine ausgewogene Berücksichtigung der Interessen der Vertragspartner und den Schutz des Verbrauchers abzielt. Klauseln von AVB können dann für unwirksam erklärt werden, wobei auch das Transparenzgebot als Kontrollmaßstab dienen kann. Als Kriterium für Transparenz gilt die „Verständnismöglichkeit des durchschnittlichen Versicherungsnehmers (…) ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse, der die AVB aufmerksam liest und verständig – unter Abwägung der Interessen der beteiligten Kreise und unter Berücksichtigung des Sinnzusammenhangs (…) – würdigt“ (Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 26. Auflage, 1998, Vorbem. III., Rn. 2)
b) AVB als Vertragsgrundlage für den Kunden
AVB müssen dem Kunden bei Vertragsabschluss ausgehändigt werden. Er muss (und kann) sie in dieser Situation aber nicht umfänglich zur Kenntnis nehmen. Transparenzbedarf besteht eher in dem Moment, in dem ein Problem auftritt. Der Kunde sollte dann „einigermaßen schnell die maßgebliche Regelung ausfindig machen und die Rechtslage eigenständig zuverlässig ermitteln können“ (Koller, I. (1990): ‚Das Transparenzgebot als Kontrollmaßstab Allgemeiner Geschäftsbedingungen‘. In: Baur, J.F., K.J. Hopt & K.P. Mailänder (Hrsg.), Festschrift für Ernst Steindorff. Berlin, New York, 667-686).
c) AVB als Referenz für den Versicherungsvermittler
Der Abschluss einer Versicherung erfolgt häufig durch einen Vermittler, einen Versicherungsagenten oder Versicherungsmakler, bei dem der Kunde auch bei später auftretenden Verstehensproblemen „fachkundigen Rat“ (Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 26. Auflage, 1998, Vorbem. III., Rn. 7) suchen soll. Dabei dienen dem Vermittler die AVB als eine Informationsquelle.
Die AVB sollen mithin für drei verschiedene Personengruppen – Versicherungsnehmer, Juristen und Agenten – „klar und verständlich“ sein. Verständlichkeit ist aber keine Eigenschaft, die einem Text innewohnt oder ihm fehlt: massgeblich ist vielmehr der Verstehensprozess und das Verstehensergebnis der Rezipienten.
II. Annahmen zum Verstehensprozess
Textverstehen ist eine konstruktive mentale Aktivität, bei der der Wissenshintergrund des Rezipienten, die Leseintention und die Eigenschaften des Textes in komplexer Weise miteinander interagieren. Verstehen meint den Aufbau einer kohärenten mentalen Repräsentation des im Text vermittelten Sachverhalts. Da ein Text einen Sachverhalt niemals vollständig wiedergibt, werden bei der Textverarbeitung Alltagswissen und Sachwissen aktiviert und Inferenzen gebildet. Die mentale Repräsentation ist somit wissensabhängig und geht grundsätzlich über die explizit im Text vermittelte Information hinaus. Der Text mit seiner thematischen Struktur und seinen lokalen und globalen Kohärenzeigenschaften aktiviert spezifische kognitive Mechanismen zum Aufbau der mentalen Repräsentation.
III. Fragestellung und Untersuchungsziel
Aus der Konfrontation der dem Transparenzgebot zugrunde liegenden Annahme zum Textverständnis mit psycholinguistischen Befunden zum Textverstehen wird folgende Fragestellung abgeleitet:
Welche Verstehensprozesse laufen ab und welches Verstehensergebnis wird erzielt, wenn Rezipienten mit unterschiedlichen Wissensvoraussetzungen – Laien, Juristen und Versicherungsvermittler – die AVB für die Riester-Rente zur Lösung eines spezifischen Versicherungsproblems zu Rate ziehen?
Ziel der Untersuchung war es, das Textverstehen der drei Rezipientengruppen und seine Bedingungen genau zu erfassen und miteinander zu vergleichen.
IV. Anlage der Untersuchung
1. Probanden
Es wurden drei Gruppen von Probanden mit je unterschiedlichem Hintergrundwissen gewählt: Laien, Juristen und Versicherungsagenten.
1. Die Laien sollten eine abgeschlossene, nicht-akademische Berufsausbildung haben und keine über das Alltagswissen hinausgehenden juristischen Kenntnisse verfügen; ebenso sollte sich ihre Erfahrung mit Versicherung auf die Kundenrolle beschränken.
2. Als Juristen wurden Rechtsreferendare und Assessoren ausgewählt, die kurz vor oder nach dem zweiten Staatsexamen standen, da bei dieser Gruppe ein breites, wenn auch noch nicht spezialisiertes Wissen angenommen werden kann.
3. Die als Agenten bezeichnete Gruppe setzte sich aus Versicherungsvermittlern zusammen, die entweder als Versicherungsagenten für eine bestimmte Versicherung tätig waren oder aber als Versicherungsmakler eine Reihe von Produkten verschiedener Versicherungen vermittelten.
2. Verstehensdeterminierende Faktoren
Die Untersuchung ist so angelegt, dass sowohl die verstehensdeterminierenden Faktoren als auch der Verstehensprozess selbst und das Verstehensprodukt erfasst werden können.
1. Der determinierende Faktor Leseintention wurde für alle Informanten dadurch konstant gehalten, dass ihnen eine bestimmte, situativ eingebettete Problemstellung vorgegeben wurde, auf deren Lösung hin sie den Text lesen sollten:
Eine Bekannte bittet Sie um Rat. Sie hat im Januar 2002 eine Rentenversicherung abgeschlossen, für die sie monatlich 150 Euro zahlt. Sie ist 32 Jahre alt und der Vertrag läuft bis zu ihrem 65. Lebensjahr. Sie befürchtet nun, dass ihr die Beitragszahlungen einmal zu viel werden könnten. Was kann sie in diesem Fall tun?
Zur Problemlösung wurden den Probanden die Versicherungsunterlagen vorgelegt, welche einem Versicherungsnehmer bei Abschluss einer Riester-Rente ausgehändigt werden.
2. Der zweite determinierende Faktor Wissensvoraussetzungen wurde über die Probandenwahl kontrolliert; genauere Daten zu interindividueller Variation wurden mittels einer mündlichen Befragung anhand eines Interviewleitfadens erhoben.
3. Verstehensprozess und Verstehensprodukt
1. Aufschluss über den Verstehensprozess sollte durch die Methode des „Lauten Denkens“ erlangt werden: Die Probanden sollten die beiden für die Problemlösung zentralen §§ 6 und 7 der AVB (Ruhenlassen und Kündigung der Versicherung) Satz für Satz interpretieren. Die beiden Paragraphen wurden ihnen satzweise vom Band vorgespielt, wobei sie den Text vor sich liegen hatten. Nach jedem Satz sollten sie so genau wie möglich verbalisieren, wie sie den Satz verstehen.
2. Der Zugang zum Verstehensergebnis erfolgt über die schriftliche Beantwortung von Fragen zum Textverstehen. Es wurden drei Fragebögen zum Textverstehen mit 18 Ja/Nein-, 14 Multiple-Choice und 8 offenen Fragen erstellt, die im Anschluss an das „Laute Denken“ bearbeitet werden mussten und die es ermöglichen sollten, das Verstehensprodukt der Probanden zu kontrollieren.
V. Ablauf der Erhebungssitzungen
Die Erhebungssitzungen hatten folgenden Ablauf:
1. Einleitungsteil:
- Information über Untersuchungsziel und Sitzungsablauf
- Erster Interviewteil zum Wissen über die Riester-Rente und verwandte Versicherungskonzepte (z.B. Kapitallebensversicherung)
2. Hauptteil:
- Problemvorgabe und Aushändigung der relevanten Versicherungsunterlagen (AVB und damit in Bezug stehende weitere Teile des Versicherungsscheins)
- Suche der für die Lösung des vorgegebenen Problems relevanten Passagen in den AVB mit anschließender Erläuterung der Suchstrategie
- „Lautes Denken“ anhand der §§ 6 und 7 der AVB (Ruhenlassen und Kündigen der Versicherung), die satzweise vom Tonband vorgespielt werden. Die Vorbereitung der Probanden erfolgt durch eine genaue Instruktion, dem Vorspielen eines Beispiels und standardisierter Einübung in die Methode.
- Schriftliche Bearbeitung von zwei Fragebögen zum Textverstehen (multiple choice-Fragen und einfache wahr/falsch-Fragen). Zu jeder Frage sollen die Probanden auf einer fünfstufigen Konfidenzskala angeben, wie sicher sie sich ihrer Anwort sind.
- Zweiter Interviewteil zu Umgang und Erfahrung mit Versicherungstexten und anderen Typen von Rechtstexten im privaten und beruflichen Bereich
Eine Sitzung dauerte etwa zwei Stunden. Die Sitzungen wurde mit Audio- und Videogeräten aufgezeichnet; die Aufnahmezeit aller Daten belief dabei sich auf insgesamt 4.380 Minuten bzw. 73 Stunden.
VI. Auszüge aus den Versicherungsunterlagen
§ 6 Wann können Sie Ihre Versicherung ruhen lassen?
1. Sie können Ihre Versicherung vor dem vereinbarten Rentenbeginn jederzeit zum Schluss des laufenden Versicherungsjahres, bei Vereinbarung von Ratenzahlungen (vgl. § 3 Ziffer 2) auch innerhalb des Versicherungsjahres zum Schluss eines jeden Ratenzahlungsabschnitts, ruhen lassen (Beitragsfreistellung). In diesem Fall setzen wir die versicherte Rente auf eine beitragsfreie Rente herab. Die beitragsfreie Rente wird nach den anerkannten Regeln der Versicherungsmathematik für den Zeitpunkt der Beitragsfreistellung errechnet. Der aus Ihrer Versicherung für die Bildung der beitragsfreien Rente zur Verfügung stehende Betrag mindert sich um einen Abzug. Der Abzug beträgt 0,2 Prozent der Differenz zwischen dem zum vereinbarten Rentenbeginn vorhandenen Deckungskapital *3) und dem zum Zeitpunkt der Beitragsfreistellung vorhandenen Deckungskapital *3).
Eine Übersicht der garantierten beitragsfreien Renten ist im Versicherungsschein enthalten.
2. Ihre Versicherung können Sie nach einer Beitragsfreistellung jederzeit durch Fortsetzung der Beitragszahlung wieder in Kraft setzen. Hierfür findet der bei Abschluss des Vertrages gültige Tarif Anwendung.
§ 7 Wann können Sie Ihre Versicherung zur Auszahlung des Rückkaufswertes kündigen?
1. Sie können Ihre Versicherung vor dem vereinbarten Rentenbeginn jederzeit zum Schluss des laufenden Versicherungsjahres, bei Vereinbarung von Ratenzahlungen (vgl. § 3 Ziffer 2) auch innerhalb des Versicherungsjahres zum Schluss eines jeden Ratenzahlungsabschnitts, schriftlich kündigen. Nach Kündigung erhalten Sie den Rückkaufswert.
2. Kündigen Sie Ihre Versicherung, so wird gemäß § 176 Versicherungsvertragsgesetz der Rückkaufswert nach den anerkannten Regeln der Versicherungsmathematik für den Kündigungstermin als Zeitwert Ihrer Versicherung berechnet, wobei derselbe Abzug erfolgt, der bei einer Beitragsfreistellung nach § 6 Ziffer 1 vorgenommen würde. Beitragsrückstände werden hierbei berücksichtigt. Bei beitragsfreien Versicherungen wird kein Abzug vorgenommen.
Der Rückkaufswert erreicht mindestens einen bei Vertragsabschluss vereinbarten Garantiebetrag, dessen Höhe sowohl vom Kündigungstermin als auch vom Zeitpunkt der Einstellung der Beitragszahlung abhängt. Eine Übersicht der garantierten Rückkaufswerte ist im Versicherungsschein enthalten.
3. Nach Beginn des Rentenbezugs ist eine Kündigung zur Auszahlung des Rückkaufswertes nicht mehr möglich.
4. Die Rückzahlung der Beiträge können Sie nicht verlangen.
Erläuterungen
*3) Das zum vereinbarten Rentenbeginn vorhandene Deckungskapital bzw. das zum Zeitpunkt der Beitragsfreistellung vorhandene Deckungskapital ist das mit den Rechnungsgrundlagen der Beitragskalkulation prospektiv zum vereinbarten Rentenbeginn bzw. zum Zeitpunkt der Beitragsfreistellung berechnete Deckungskapital.
VII. Gang der Untersuchung
2001 wurden zunächst vorbereitende Aktivitäten für die eigentliche Untersuchung durchgeführt. Zeitgleich mit der Herstellung der technischen Voraussetzungen wurde ein erster Ablaufplan für die Untersuchung mit den entsprechenden Erhebungsinstrumentarien entwickelt und in fünf Probeerhebungen getestet. Die Daten wurden transkribiert und auf ihre Qualität und Vergleichbarkeit hin überprüft. Dabei zeigte sich insbesondere die Notwendigkeit einer stärkeren Standardisierung bei der Informanteninstruktion, der Durchführung des Lauten Denkens und den (zunächst mündlich gestellten) Fragen zum Textverstehen. Die in Frage stehenden Untersuchungsteile wurden revidiert bzw. neu entwickelt. Daraufhin wurde mit der eigentlichen Informantensuche und der Datenerhebung begonnen, die Ende 2002 abgeschlossen werden konnte. 2003 wurde dann die Datentranskription und die statistische Auswertung der Daten durchgeführt. Es wurden Analyseschemata für die einzelnen Untersuchungsteile ausgearbeitet und auf die Daten angewendet. Die Suche der Informanten nach den relevanten Passagen wurde in Bezug auf Sucherfolg, zeitlichen Suchaufwand und Suchstrategie ausgewertet, während der Textverstehensprozess nach Kohärenz, Vollständigkeit und Richtigkeit der Sachverhaltsrepräsentation auszuwerten und mit dem Hintergrundwissen und den Texteigenschaften in Bezug zu setzen war. Schließlich erfolgte die Auswertung der Fragebögen zum Verstehensergebnis.
Die Auswertung und Interpretation der erhobenen Daten wurde 2004 für alle drei Datentypen abgeschlossen. Als sehr aufwändig, aber auch besonders ergiebig in Hinblick auf das Untersuchungsziel erwies sich die Analyse der Daten des Lauten Denkens. Die Datenbasis umfasst die von den dreißig Probanden abgegebenen Erläuterungen zu siebzehn teilweise komplexen Sätzen laufenden Textes, die sich auf knapp fünfzehn Stunden Aufnahme belaufen. Die Daten wurden qualitativ und quantitativ ausgewertet. Für jeden Satz des Primärtextes liegen Detailanalysen aller Interpretationen vor, aus denen hervorgeht, welche Sachverhaltsannahmen die Probanden entwickeln, ob und inwieweit die Bedeutungsrekonstruktion dem Gemeinten entspricht und worin Verstehensprobleme begründet sind. Um darüber hinaus zu quantitativen Aussagen zu gelangen, wurden alle Daten anhand einer Reihe von Kategorien kodiert und die entsprechenden Häufigkeitsverteilungen ermittelt. Über die Kategorien „Vollständigkeit der Interpretation“, „Korrektheit der Interpretation“ und „Vorkommen von Inferenzen“ konnte die Verstehensleistung zahlenmäßig erfasst werden. Weitere Kategorien betreffen das Erfassen der Textstruktur durch die Probanden und ihr Verstehens-Monitoring.
VIII. Ergebnisse der Untersuchung
Das bemerkenswerteste Resultat der Untersuchung ist wohl, dass sich die Leistungen der drei Probandengruppen nicht erheblich voneinander unterscheiden: Keine von ihnen konnte ein zufriedenstellendes Ergebnis erbringen. Zwar schneiden die Versicherungsvermittler im Gruppenvergleich am besten ab, aber auch ihre Leistung ist in vieler Hinsicht defizitär. Nur die Hälfte ihrer Satzinterpretationen ist „vollständig” in dem Sinne, dass alle relevanten Bedeutungsaspekte des Primärsatzes einbezogen werden. Wesentlich gravierender ist jedoch, dass nur etwas mehr als ein Drittel ihrer Satzerläuterungen (39%) korrekt ist, fast ein Fünftel (18%) sogar schlicht falsch. Ein noch schlechteres Bild bietet die Gruppe der Laien, deren Bedeutungsannahmen nur bei 21% der Interpretationen korrekt sind, während ein Viertel der Deutungen völlig vom Gemeinten abweicht. Die Leistungen der Juristen-Gruppe liegen in der Mitte.
Dass sich das Verstehen der Versicherungsvermittler dennoch grundlegend von dem der Nicht-Versicherungsexperten unterscheidet, wird deutlich in der inhaltlichen Qualität ihrer Aussagen. Der Versicherungstext beschreibt relevante Regelungen nur in hochabstrakter und partieller Weise; so heißt es etwa zur Berechnung einer Versicherungsleistung, dass sie „nach den anerkannten Regeln der Versicherungsmathematik” erfolge. Bringt man wie die Laien und Juristen kein bereichsspezifisches Wissen ein, kann man nur dadurch eine adäquate Sachverhaltsvorstellung bilden, dass man Informationen aus den verschiedensten Textteilen heranzieht und miteinander integriert. Die Laien und Juristen versuchen dies auch, aber das entwickelte Sachverhaltsmodell ist bestenfalls unterkomplex und vielfach auch stark abweichend. Die Ausgangsposition der Versicherungsvermittler ist dagegen eine ganz andere: Sie bringen Sachwissen ein, wobei es sich aber um Schemawissen über gängige und typische Regelungen im gesamten Lebensversicherungsbereich handelt. Nun gelten aber gerade für den vorliegenden Altersvorsorgevertrag einige sehr spezifische, ansonsten eher unübliche Regelungen. Den Versicherungsvermittlern gelingt es daher häufig nicht, ihre Hintergrundannahmen aufgrund der Textinformation auf den speziellen Fall abzustellen, vielmehr lassen sie sich bei der Interpretation so stark von ihren wissensbedingten Erwartungen leiten, dass Textaussagen eine abweichende Bedeutung zugeordnet wird oder dass über den Text hinaus Regelungen behauptet werden, die hier gar nicht zutreffen.
Diese Vorgehensweise der Versicherungsvermittler wird durch eine bestimmte Verstehensstrategie befördert, die im Übrigen nicht nur von ihnen, sondern von den Probanden aller Gruppen strikt befolgt wird. Jede neue Information des Textes wird so interpretiert, dass sie an die bisherigen Sachverhaltsannahmen angeschlossen werden kann. Wenn der Text nun Aussagen enthält, die mit den Annahmen nicht kompatibel sind, lässt sich zweierlei beobachten. Zum einen wird „störende“ Information einfach ausgeblendet, und dies, obwohl die Probanden den Text während der Interpretation vor Augen haben. Alternativ wird versucht, die eigenen Annahmen durch – teilweise komplizierte – Zusatzannahmen zu retten. Die Folge ist, dass in den gesamten Daten nicht mehr als ein Fall belegt ist, in dem eigenes Fehlverstehen erkannt und revidiert wird.
IX. Fazit
Legt man die Ergebnisse der empirischen Studie zugrunde, ist die Transparenz Allgemeiner Versicherungsbedingungen, die sich am Verstehen durch die Textrezipienten bemisst, als unzulänglich einzustufen. Die Verstehensprobleme sind dabei vor allem darin begründet, dass es zu keiner hinreichenden Interaktion von Textinformation, Hintergrundwissen und Verarbeitungsstrategien kommt. Aufgrund ihrer besonderen Inhalts- und Formeigenschaften sind die untersuchten Versicherungsklauseln weder geeignet, bei einem Leser mit wenig Wissensvoraussetzungen den Aufbau eines Sachverhaltsmodells zu ermöglichen, noch befähigen sie diejenigen Leser, welche im Prinzip gute, aber zu allgemeine Wissensannahmen mitbringen, die von ihnen eingebrachten Vorstellungen für den gegebenen Fall zu überprüfen und gegebenenfalls zu revidieren. Dementsprechend konnte nicht einmal die Hälfte der Probanden richtig einschätzen, mit welchen finanziellen Einbußen bei einer Kündigung der Versicherung nach drei Jahren zu rechnen ist.